Mittwoch, Januar 26, 2005

Aus heiterem Himmel

Ein herrlicher Hochsommertag Anfang August, Mitte der 80er Jahre. Ich bin mit dem Fahrrad allein unterwegs, auf dem Weg von Lübeck nach Witten/Herdecke. Hinter Lüneburg und dann Ülzen suche ich mir weiter möglichst ruhige, Auto freie Wege und Strassen. Immer wieder auch in kleinen Orten halten, um das nächste Etappenziel auf der Karte auszugucken, also welchen Ort ich als nächsten anfahre. Dann in Bergen stehe ich wieder an einer ländlichen Weggabelung und schaue auf die Karte. Nächster Ort auf meiner Strecke wäre Belsen. Mh, irgendwie bekannt klingende Namen, hier in dieser norddeutsch-ländlichen Einöde. Langsam dämmert mir eine Assoziation. Bergen hier, Belsen dort. Bergen-Belsen? Das Bergen-Belsen? Kann das wirklich sein, hier in der Nähe war ein Konzentrationslager? Aus heiterem Himmel mitten in der Lüneburger Heide ganz banal und ungewollt bei einer Radtour treffe ich auf eine Stätte tausendfacher Vernichtung von Menschen. Ohne jede Vorbereitung, ohne offiziellen Termin. Ich kannte aus der Schule nicht von vielen ehemaligen KZ die jeweilige örtliche Lage auf der Landkarte, hatte keine genauere Vorstellung von deren örtlicher Lage. Vermutlich in der weiten Wildnis irgendwo im fremden Osten, und im Süden Deutschlands in den Industriegebieten grosser Städte, wo die industrielle Verwurstung von Menschen vielleicht weniger auffällt. Im Nachhinein fällt mir auf, dass wir in der Schule sehr umfassend und intensiv die NaziZeit thematisiert hatten, jedoch ihr jeweiliger Ausdruck in der örtlichen Nähe, wurde offenbar umgangen. Besichtung der Hinrichtungsstätte in Berlin Plötzensee, aber die Stätten des Terrors im eigenen und den angrenzenden Bundesländern waren offenbar kein Thema.

Anfang der 90er war ich wiedermal mit dem Rad allein auf Tour. Von Frankfurt am Main nach Leipzig. Über den Thüringer Wald, durch Erfurt und dann später am Nachmittag war ein Waldgebiet in der Nähe und ich suchte mir hier ein Plätzchen zum übernachten. Es war ein leichter Hang, unten lief parallel die Landstrasse, oben das Waldgebiet. Über die Silhouette der Baumwipfel ragte ein merkwürdiger, düsterer Turm mit seiner Spitze. Der Turm wirkte auf mich so unheimlich und bedrückend, dass ich mich fragte, wozu der wohl sei und ob ich hier wirklich im Wald übernachten will oder nicht doch lieber ein Stück weiterfahre. Ich überlegte, ob das vielleicht ein Wachturm eines DDR-Knasts ist oder ein geheimes Lager der Sowjets in der DDR oder ein aktueller Ost-Knast. Ich blieb dann doch und nächtigte dort am Fusse im Wald. Am nächsten Morgen weiter in Richtung der nahen Stadt Weimar und erst später wurde mir klar, dass dieser bedrohlich wirkende Turm zum KZ Buchenwald gehört.

Bei der grundlegenden Suche nach den schönen und einfachen Dingen des Lebens in diesem Land, stösst man immer wieder auf die Scheisshaufen Menschen fressender deutscher Geschichte und es fällt auf, dass es sehr viele sind und auch aktuell im Kleineren weiter geschissen wird. Alles bewältigt - nix verstanden.