Mittwoch, Juni 17, 2015

Als junger Wessi In der DDR hab ich mich freier gefühlt, als damals, jetzt und hier in West- / Gesamt-Deutschland

Quelle: Frank Schirrmacher - Ego, Das Spiel des Lebens

Hier werde ich überall überwacht: jedes Telefonat, alles was ich im Internet mache, beim Einkaufen folgen mir Spitzel, und auch in meiner Wohnung bleibt keine Bewegung und kein Gedanke unbeobachtet. 
Ich bin Wessi, kein Ossi, aber ich hatte Verwandte drüben in der DDR und war darum als Kind, Jugendlicher und junger Mensch ein paar Mal zu Besuchen drüben in der DDR, zuletzt ein halbes Jahr vor dem Mauerfall, im Frühjahr 1989, im Raum Leipzig. Und meine Oma von dort besuchte uns im Westen alle paar Jahre und hatte viel zu erzählen über ihren mühseligen Alltag mit Partei treuen Nachbarn, leeren Einkaufsläden und trägen Behörden.

Ich selbst habe mich als besuchender Wessi in der DDR weder verfolgt noch schikaniert gefühlt, und das öffentliche Bild wirkte sogar weniger reglementiert und streng geordnet auf mich, als das des Westens. Schon allein das Straßenbild vermittelte viel mehr Freiheit und Eigenverantwortung: kein Mittelstreifen auf der Straße, keine Bordsteinkanten zwischen Rad- und Fußweg, keine Zäune und sonstigen Sperren zwischen Straße und Grundstücken, es wirkte alles viel offener und verbundener, hingegen im Westen alles abgegrenzt, eingegrenzt, ausgegrenzt, eingehegt, ausgefegt, eingezäunt, überall Signale und Zeichen was man darf, soll, muss, kann, will usw. Im Westen am Strand baute sich jeder eine Sandburg um Strandkorb oder Handtuch.

Für mich als jugendlicher Besucher aus dem Westen war es überwiegend ein freies Lebensgefühl in der DDR. 
Allerdings die Unmöglichkeit für DDR Bürger, in den kapitalistischen Westen kommen zu können, und der Warenmangel samt dem niedrigen Lebensstandard wirkte sich auf das Selbstwertgefühl der DDR-Bürger im Verhältnis zu uns Wessis negativ aus, untereinander war man aber offenbar sehr viel freier und ohne das westliche soziale Kastendenken. 

Der Warenmangel, die nicht vorhandene Freizeit-Industrie, die grauen Häuserkulissen, die nicht vorhandene bunte Werbung, keine Konsum-Verherrlichung usw bewirkte eine Fokussierung auf die Mitmenschen und auf eine hohe Qualität der wenigen Dinge - man kommunizierte miteinander und stütze sich gegenseitig, gegen die graue Realität und ihre Erzeuger. Im Vergleich zu den westlichen Produkten gefielen mir als Jugendlicher die Ostprodukte recht gut: Eis, Cola, Sprudel, Milch uvm schmeckten mir sogar besser als die gleichen Westprodukte. 

Hier im Westen werden die einen gegen die anderen instrumentalisiert und ausgespielt, geködert, gelockt, belogen und verarscht, denn es gibt ja materielle Werte zu verteilen. Weil Warenmangel und graue Häuser nicht aggressiv sind, war der Zusammenhalt in der DDR vielleicht weniger ängstlich, sondern voller Witz und Ironie. 

Ich glaube, die negativen Seiten des Lebens, waren in der DDR von einer relativ sichtbaren und greifbaren Art (Warenmangel, und alle wussten von der Allgegenwart der StaSi), und das machte die Probleme in gewisser Weise handhabbar (zB Tauschgeschäfte und Anbau von Obst und Gemüse im eigenen Garten). Die heutigen Probleme und Gefahren sind versteckter, heimlicher, verborgener, und von heimtückischer Art, es sind lauernde Gefahren, so wie Krokodile und Schlangen auf warmblütige Säugetiere als Beute lauern.

Wir leben in einem bunten, üppigen Dschungel, der auch voller tödlicher Gefahren ist. Die DDR war vielleicht wie ein Eingeborenendorf im Urwald ein sicherer, aber auch eingeschränkter Ort. Der Dschungel hat das Dorf nun verschlungen.

Ist es nicht absurd, dass der Geheimdienst der wirtschaftlich schwachen DDR hier im Westen als Bedrohung galt und ein permanentes Thema war, hingegen über den Geheimdiest des reichen Westdeutschland nie geredet wurde, als ob die BRD keinen viel mächtigeren Inlandsgeheimdienst hat. Offenbar ein sehr erfolgreiches Ablenkungsmanöver des Westens.